Memelland (lit. Klaipėdos kraštas) ist die litauische Region, die eine eigenartige Geschichte der Untersuchung archäologischer Objekte besitzt, die im Unterschied zum anderen Teil Litauens durch politische Abhängigkeit dieser Region beeinflusst war.
Die Tragödie des Jahres 1945, die die Veränderung der Bevölkerung, der Siedlungen, der Infrastruktur und der ganzen kulturellen Landschaft dieser Region zur Folge hatte, entschied ihre Eigenart und ExkIusivität sogar hinsichtlich des Denkmalpflege. Das hatte Auswirkungen auch für die Untersuschung und den Schutz archäologischer Objekte. Da die Kontinuierlichkeit archäologischer Untersuchungen unterbrochen worden war, entstand eine parodoxe Situation, dass jene archäologischen Objekte, die nicht nur den Archäologen, sondern auch der lokalen Bevölkerung bekannt waren, heute “verloren gegangen” sind, und die Suche nach ihnen muss anhand einer sehr fragmentarischen Information erneuert werden. Die Wiederentdeckung solcher Objekte erlaubt es, nicht nur die “verloren gegangenen” Punkte auf der archäologischen Karte neu zu verzeichnen, sondern verleiht neuen Stoff für die Diskussion und Interpretation.
1998 fand man im Memelland an der Grenze der Dörfer Strazdai (Strasden) und Ječiškės (Jettschen) ein Gräberfeld, das seiner geographischen Lage nach der in der römischen Kaiserzeit ausgesonderten Kulturgruppe am Unterlauf des Nemunas (Memel) zugehörte (Jovaiša, 1997, Karte; Michelbertas, 1998, S. 426, Abb. 1). Dieses Gräberfeld wurde mehrmals in der archäologischen Literatur und Presse des vierten Jahrzehnts des 20 Jhs. erwähnt (Engel, 1931, S. 86; Sch., 1937). Die dortigen Funde gerieten 1937 in das Landesmuseum in Memel, einige davon werden heute im historischen Museum Kleinlitauens in Klaipėda aufbewahrt (Abb. 13:1, 13:2).
1998–2000 wurden die Ausspürgrabungen des Strazdai, Ječiskės Gräbedeldes durchgeführten, mit dem Ziel, seine Grenzen und die Chronologie festzustellen. In diesem Zeitraum wurde eine Fläche von 250 m2 untersucht und 7 Gräber wurden gefunden.
Grab Nr. 1. Urnengrab. Der Durchmesser der Grube beträgt 40 cm. In sie hat man den Grund mit den Brandresten und den Resten kleiner verbrannten Knochen hinein-geschüttet und die Urne hineinlegt. Sie ist 19,5 cm hoch, wird ab dem Boden breiter, der Hals ist nach innen gebogen. Der Durchmesser des Bodens der Urne beträgt 13 cm, die breiteste Stelle beträgt 26 cm, die Öffnung ist 22 cm breit. Die äußere Oberfläche ist glatt, ein wenig pockennarbig, rötlich. Die verbrannten Knochen in der Urne sind sauber, ohne Zusatz von Grund oder von größeren Brandresten. Die Analyse der in der Urne gefundenen Knochen, die von dem Anthropologen Dr. R. Jankauskas vorgenommen worden war. hat ergeben, dass die Knochen gleichmäßig durchgebrannt waren (Verbrennungstemperatur betrug 600–800 °C) und dass es um die Bestattungsreste einer Person, eines Mannes, der etwa 25–30 Jahre alt war, ging. Nachdem die außerhalb der Urne gefundenen Brandreste einer Radiocarbon-Analyse unterzogen worden waren, erhielt man das Ergebnis 2770 ± 70bp (Ki-7648), dieses Datum wurde kalibriert, und die Probe datierte man in die Jahre 1125–803 v. Chr.
Grab Nr. 2. Urnengrab. Der obere Teil des Grabes ist abgetrennt. Erhalten geblieben ist nur ein kompakter Hauen verbrannter Knochen und einige Scherben des Urnen-bodens, was die Annahme zulässt, dass ihr Durchmesser > 5,5 cm war. Die anthropologische Analyse der Knochen, die von Dr. R. Jankauskas vorgenommen wurde, lässt die Schlussfolgerung zu, dass die Knochen gleichmäßig durchgebrannt sind (Verbrennungs temperatur betrug 600–700 °C), die Bestattungsreste gehörten einem Mann, der älter als 40 war. Die Art und Weise des Bestattungsritus (Brandbestattung) erlaubt die Datierung des Grabes Nr. 2 in die 2. Hälfte des I. Jahrtausends. v. Chr.
Grab Nr. 3. Körpergrab. Die Grube des Grabes war 2 m lang, oval und südöstlich – nordwestlich orientiert, seine Breite betrug bis 1,3 m. Auf der nordwestlichen Seite fand man Bernsteinperle (Abb. 5) und einige kleine zusammengeklebte Keramikscherben. Nach der Art und Weise des Bestattungsritus (Körpergrab) datiert man das Grab in das 2.–8. Jb.
Grab Nr. 4. Körpergrab. Die Konturen des Grabes waren nicht mehr zu sehen. Funde: Zwei Lanzenspitzen (Abb. 7:1., Abb. 7:2); Dreisprassenfibel (Abb. 7:3), die zum Übergangstyp der Fibeln von A96 zu A98, oder zur 2. Subgruppe der Gruppe III, gehört.
Die Beigaben und ihre Anordnung erlauben es zu schlussfolgern, dass hier ein Mann mit dem Kopf in die nordwestliche Richtung bestattet war. Das Grab ist in die Stufe C1a–C1b zu datieren.
Grab Nr. 5. Körpergrab. Es war nicht gelungen, die Grenzen des Grabes zu fixieren. Fundmaterial: Gebiss (Abb. 9:4); Beil (Abb. 9:3); Gürtelbeschlag (Riemenzunge?) von annähernd rechteckiger Form, mit leicht eingezogenen Längsseiten (Abb. 9:1); Doppeldornschnalle mit zweiteiligen rechteckigen Rahmen des Types G23 (Abb. 9:2); Halsring mit Kegelenden, I. Gruppe (Abb. 8:1); Fragment einer Nadel mit Ringkopf (Abb. 8:3); Dreisprossenfibel A98 des Masurischen Types (Abb. 8:2); Lanzenspitze (Abb. 9:5).
Anhand der Anordnung der Beigaben im Grab wurde ein Mann in der nördlich – südlich orientierten Grube bestattet, die Grube war 2,2 m lang, der Kopf des Leichnams war nach Norden gerichtet. Das Grab Ne. 5 ist in die Stufe C1a zu datieren.
Grab Nr. 6. Körpergrab. Es war nicht gelungen, die Grenzen des Grabes zu fixieren. Fundmaterial: Halsring mit KegeIenden der Gruppe I (Abb. 10:2); Nadel mit rundem durchbrachen em Kopf, mit einem Hakenkreuz im Innern (Abb. 10.1), deren Analogien nicht gefunden worden waren, doch sie ist der Radnadel der Gruppe I nah verwand, die im litauischen archäologischen Fundmaterial in die Stufe B2/C1–C1a datiert wird (Michelbertas, 1986, S. 129); Lanzenspitze (Abb. 11:1); Messer (Abb. 11:3), dessen Klinge neben dem Rücken beiderseits mit kleinen Furchen, ihr Boden mit Dreieckehen ornamentiert war; Beil (Abb. 11:2).
Anhand der Beigaben und ihrer Anordnung im Grab wurde in der nördlich-südlich orientierten Grube ein Mann bestattet, die Grube ist mehr als 1,6 m lang. Das Grab Nr. 6 ist in die Stufe C1a zu datieren.
Grab Nr. 7. Körpergrab. Es war nicht gelungen, die Grenzen des Grabes zu fixieren. Fundmaterial: Beil (Abb. 12.6); Fragment eines Halsringes (Abb. 12.1); Radnadel der Gruppe I (Abb. 12.4); Messer (Abb. 12.5); zwei Fibeln A98 des Masurischen types (Abb. 12.2, Abb. 12.3). Neben den Fragmenten des Halsringes hat man im Grab Reste der Zähne gefunden, die, wie die von Dr. R. Jankauskas und Dr. A. Bartkus durchgeführte Analyse ergeben hat, einer 12–20 jährigen Person, wohl einer Frau, gehört hatten.
Anhand der Beigaben und ihrer Anordnung im Grab wurde in der nördlich – südlich orientierten Grube ein Mann mit Kopf in nördliche Richtung bestattet.
Das Strazdai, Ječiškės Gräberfeld ist in das 1 Jahrtausend v. Chr-in die 1. Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. zu datieren. Die Gräber Nr. 1 und Nr. 2 werden in das I. Jahrtausend datiert. Zur Stufe B2–B2/C1 gehören Augenarmring (Abb. 14:7), Fibel mit dreieckfuß (Abb. 14:5) und ein dreieckige Anhhänger (Abb. 14:7), dessen Analog in dem zum westlitauischen Gebiet der Gräberfelder mit Steinkreisen gehörenden KurmaiCiai Gräberfeld gefunden worden ist (Kulikauskas, 1957, S. 144, Abb. 4). In die Cla Stufe werden die Gräber Nr. 5–7 datiert. Es ist interessant, dass zu Häupten der Gräber Nr. 5–7, die in die B2/C1–C1a Stufe datierten werden, Steinkonstruktionen zu sehen waren, die an die Steinkreise erinnerten, die in den Gräbern dieser Periode im westlitauischen Gebiet der Gräberfelder mit Steinkreisen gefunden worden waren. In die Stufe ClaClb zu datieren sind das Grab Nr. 4 und zwei zufallig gefundene Bronzemünzen des Römischen Reiches, eine davon scheint in der Zeit Faustinas I oder Faustinas II (Abb. 14:6) geprägt zu sein. In die Stufe E wird die Kreuznadel (Abb. 14:5) datiert. Die Axt (Abb. 13:1) datiert dagegen in die I. Hälfte des 2. Jahrtausends.
Das Untersuchungsmaterial des Strazdai, Ječiškės Gräberfeldes liefert uns nicht nur neue Daten über die Kulturgruppe der Gräberfelder am Unterlauf des Nemunas, sondern erlaubt es uns, Annahmen für die Genese der Gräberfelder dieser Region in der römischen Kaiserzeit und der Kontakte der Gemeinden, die hier gelebt haben, mit anderen Gebieten zu formulieren.
Die I. Annahme betrilTt den Bestattungsritus in späterer Bronzezeit bzw. früherer Eisenzeit (I. Jahrtausend v. Chr.) am Unterlauf des Nemunas.
Das Besiedlungsproblem des Unterlaufs des Nemunas in späterer Bronzezeit bzw. früherer Eisenzeit ist in den Arbeiten der litauischen Archäologen nicht endgültig formuliert und diskutiert worden. Ohne detailliert auf die Funde dieser genannten Stufe einzugehen, lässt sich behaupten, dass der Unterlauf des Nemunas einen “weißen Fleck” zwischen der westbaltischen Hügelgräber-Kultur und der Kultur der Strichkeramik darstellt (Grigalavičienė, 1995, S. 238, Abb. 143).
Zwei Brandgräber in den Urnen, die im Strazdai, Ječiškės Gräberfeld gefunden waren, sind dem 1. Jahrtausend v. Chr. zuzuteilen. Als erster hat auf solche Gräber A. Bezzenberger hingedeutet, der das Gräberfeld von Lumpėnai (Lumpönen) aus der späteren römischen Kaiserzeit untersucht und einige halb zerstörte Brandgräber mit den Resten von Urnen gefunden hatte (Bezzenberger, 1909, S. 131–132), Der Forscher hat damals die Schlussfolgerung gezogen, sie seien alter als die Körpergräber, hat aber die Gräber genauer nicht datiert. Anhand genannten Daten hehauptete der Archäologe W. Nowakowski, die Urnengräber am Unterlauf des Nemunas wären der späteren Kaiserzeit zuzuteilen (Nowakowski, 1997, S. 101–102), und ihr Vorhandensein am Unterlauf des Nemunas wurde eines der Argumente, das die Behauptung zuließ, dass die Gemeinden, die die Gräberfelder am Unterlauf des Nemunas hinterließen hatten, dem Semland näher standen als dem westlitauischen Gebiet der Gräberfelder mit Steinkreisen (ebenda).
Die im Strazdai, Ječiškės Gräberfeld gefundenen Urnengräber (Grab Nr. 1 und Grab Nr. 2) heben das Problem solcher Gräber hervor, um so mehr, weil es ja auch mehr Daten über die Funde der Gräber mit ähnlichem Bestattungsritus im Gebiet der Gräberfeldes am Unterlauf des Nemunas gibt. In der Vorkriegspresse schrieb man davon, dass Urnen mit verbrannten Knochen auch in den bisher nicht lokalisierten Gräberfeldern von Trakeningen (Schwarzien, 1933) und Wartulischken (Maßurmaten?) (R., 1934) gefunden wurden. Ausgehend von diesen Daten und der Datierung des Grabes Nr. 1 aus dem Strazdai, Ječiškės Gräberfeld lässt sich annehmen, dass ein eigenartiges (auch wenn nicht großes) Kulturgehiet im I Jahrtausend v. Chr. am Unterlauf des Nemunas existierte, das sich von dem Nachbargebiet der westbaltischen Hügelgräber – Kultur und Strichkeramik – Kultur unterschied. Es fehlt aber an Daten für eine territoriale und chronologische Definition dieser Gruppe von Gräberfeldern.
Die 2. Annahme betrifft die direkten Beziehungen der Kulturgruppe am Unterlauf des Nemunas mit den Kulturregionen von Bogaczewo und Przcworsk, die der Stufe B2/C1–C1a zuzurechnen sind.
Im Strazdai, Ječiškės Gräberfeld sind nur drei Gräber untersucht worden, die in die B2/C1–C1a-Stufe datiert wurden (Gräber Nr. 5–7). Sie lenken nicht nur durch ihre halbkreisförmigen Steinkreise Aufmerksamkeit auf sich, wodurch sie an die Eimichtung der Gräber im westlitauischen Gebiet der Gräberfelder mit Steinkreisen erinnern, sondern auch dadurch, weil ein Teil des Fundmaterials in diesen Gräben jenen Funden analog ist, die in den Kulturregionen vor Bogaczewo und Przeworsk gefunden waren. Das sind die ir dcn Gräbern Nr. 5–7 gefundenen A98 Fibeln, die dem Masurischen Typ zuzurechnen sind, der am meisten in jener Regionen verbreitet war, die zur Bogaczewo-Kultur gehörter (Nowakowski, 1996, Karte 6). Der zweite Fund, der das Strazdai, Ječiškės Gräberfeld mit der Kulturregion von Bogaczewo, ja sogar mit der von Przeworsk verbindet, ist das ornamentierte Messer aus dem Grab Nr. 6. Solche Funde gab es bisher auf dem Territorium Litauens nicht, aber es ist eine Waffe, die für die Kriegergräber der og. Kulturregioneo typisch ist (Karczewski, 1999, S. 103–104). Der dritte Fund, dessen Analogien nur im Kulturgebiet von Przeworsk zu finden sind, ist die im Grab Nr. 5 gefundene Doppeldornschnalle mit rechteckigem zweiteiligem Rahmen des Types G23 (Madyda-Legutko, 1986, S. 54, Karte 41) und der mit ihr verbundene Gürtelbeschlag (Riemenzunge?) von annähernd rechteckiger Form, mit leicht eingezogenen Längsseiten, deren am nähesten stehende Analogien bisher ausschließlich in den Gräberfeldern gefunden waren, die zur Kulturgebiet von Przeworsk gehörten (Madyda-Legutko, 1990, S. 571, Abb. 8:1, Abb. 8: 2, S. 572, S. 573, Abb. 9:2).
Die og. Funde zwingen uns von direkten Kontäkten zwischen dem Unterlauf des Nemunas und der Masurischen Seenplatte oder sogar von der Przeworsk – Kultur zu denken. Die Gründe ihrer Entstehung, ihres Charakters und ihrer Entwicklung waren bisher nicht breit analisiert worden, aber es war wohl ein Teil jenes Prozesses, der das Vorkommen der Funde, die der Przeworsk – Kultur typisch sind, in der Bogaczewo – Kultur der B2/C1–C1a Stufe beeinflusst hatte. Laut der Archäologin A. Bittner-Wróblewska ist dieser Prozess in Verbindung mit der Verbreitung der Wielbark – Kultur und dem Werden neuer interregionaler Beziehungen zu bringen (Bittner-Wróblewska, 1999).